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Es könnte an der Börse 70 Prozent abwärts gehen

Der Dax steht kurz vor dem Sprung über 10.000 Punkte. Doch viele Crash-Propheten halten an ihren Untergangsszenarien fest. Tatsächlich gibt es gute Argumente für einen plötzlichen Abschwung.

Albert Edwards gilt unter Börsenprofis als ein extrem schlauer Kopf, wird aber gleichzeitig auch belächelt. Der Finanzmarktstratege bei der Société Générale in London warnt seit Jahren vor dem großen Crash an der Börse. Doch die Kurse laufen einfach immer weiter nach oben. Zeitweise war sich Edwards selbst nicht mehr geheuer.

Er war sogar beim Psychologen, weil er sich fragte, ob etwas in seiner Kindheit schief gelaufen war, was ihn zum Schwarzseher hatte werden lassen. Der Psychologe konnte nichts feststellen. Und so fragt sich Edwards weiter: "Warum können die anderen die drohende Katastrophe nicht sehen, die uns droht, während sie mir so klar erscheint?"

Vielleicht weil der Deutsche Aktienindex (Dax) in der vergangenen Woche fast über die magische fünfstellige Grenze von 10.000 Punkten sprang. 170 Prozent hat das Börsenbarometer seit dem letzten Tief im März 2009 zugelegt. Wer dabei war, der kann sich über satte Gewinne freuen.

Wer dagegen den Pessimisten wie Edwards glaubte, der hat das nicht nur verpasst, sondern muss oft auch noch tiefrote Zahlen bei seinen Geldanlagen hinnehmen. Das kann schon ein Grund sein, von der Schwarzseherei der sogenannten Bären Abstand zu nehmen.

Sogar die EZB warnt jetzt

Aber die notorischen Pessimisten halten an ihren Untergangsprognosen fest, gerade jetzt, da neue Höchststände erreicht sind. Vergangene Woche bekamen sie wenigstens einmal prominente Unterstützung durch die Europäische Zentralbank (EZB). In ihrem Finanzmarktstabilitätsbericht warnte die Zentralbank, die Suche der Investoren nach Rendite berge die "Möglichkeit eines scharfen und ungeordneten Abbaus der jüngsten Kapitalflüsse".

Das ist Wasser auf die Mühlen von Martin Mack von der Vermögensverwaltung Mack & Weise. Denn genau davor warnt er seit Langem. "Seit der Aufhebung der Teil-Golddeckung des US-Dollars im Jahre 1971 ist die Geldmenge um ein Vielfaches stärker gewachsen als die Wirtschaftsleistung", sagt er.

Vor allem seit der Finanzkrise seien Billionen an neuem Geld in die Märkte gepumpt worden, eben durch die Notenbanken. Daher empfindet er es auch als zynisch, dass ausgerechnet die EZB nun warnt.

Gerade diese Geldflut habe natürlich die Aktienkurse befeuert. "Viele berauschen sich daran, ohne aber zu hinterfragen, was sie da eigentlich feiern." Denn diese Kursexplosion habe nur sehr wenig mit der Entwicklung in der realen Wirtschaft zu tun.

Fundamentale Bewertungskriterien, wie die Gewinnentwicklung der Unternehmen, verlören immer mehr an Bedeutung. "Man feiert des Kaisers neue Kleider", sagt Mack. Nur wollten die meisten noch nicht wahrhaben, dass der Kaiser nackt ist. "Finanzmärkte ignorieren Entwicklungen oft für lange Zeit", sagt Mack.

Diesmal wissen alle: Sie tanzen auf dem Vulkan

Da widerspricht Claus Vogt teilweise, obwohl er ansonsten recht ähnlich tickt wie Mack. Vogt arbeitete anderthalb Jahrzehnte bei diversen Banken als Analyst, 2010 machte er sich selbstständig und tat sich mit Roland Leuschel zusammen, der ebenfalls als ewiger Pessimist bekannt ist. Seine Autorität bezieht Vogt vor allem aus der Tatsache, dass er schon 2001 den langfristigen Aufwärtstrend beim Goldpreis vorhergesagt habe.

Er glaubt, dass die Finanzmärkte die Blase nicht ignorieren. Vielmehr seien sich die meisten Spieler am Markt vollauf bewusst, dass die Kurse inzwischen aus dem Ruder gelaufen seien. "Das ist anders als Ende der 90er-Jahre, als viele wirklich glaubten, man betrete ein neues Zeitalter, in dem alte Kennzahlen nicht mehr gelten." Diesmal wüssten praktisch alle, dass sie auf einem Vulkan tanzen.

Das sei auch beim Blick auf wichtige Indikatoren am Aktienmarkt nicht zu übersehen. "Sämtliche Kennziffern, die Profis üblicherweise für die Bewertung des Aktienmarkts heranziehen, befinden sich in der Nähe von Rekordhochs", sagt er. Vom sogenannten Shiller-KGV über das Kurs-Buchwert-Verhältnis bis zum Verhältnis von Aktienmarktkapitalisierung zum Bruttoinlandsprodukt. "Nur im Vergleich zum Jahr 2000 liegen wir bei einigen dieser Kennziffern noch etwas darunter."

Immer so lange tanzen, wie die Musik spielt

Wenn die meisten dennoch mitmachen, so liege das daran, dass die Verhältnisse sie dazu zwingen. Wenn ein Fondsmanager bei einer großen Fondsgesellschaft gegen den Trend agiere und damit Geld verliere, sei er in kurzer Zeit seinen Job los. Deshalb gelte das Prinzip, man müsse so lange tanzen, wie die Musik spielt – genau wie es im Sommer 2007 Charles Prince, damals Chef der Citigroup, sagte. Anderthalb Jahre später stand seine Bank kurz vor der Pleite.

Wer dagegen das Unheil kommen sieht und entsprechend handelt, liegt oft lange Zeit falsch. So habe auch der inzwischen legendäre Investor John Paulson schon anderthalb Jahre vor Beginn der Finanzkrise angefangen, gegen den amerikanischen Immobilienmarkt zu wetten. Lange Zeit habe er sich dafür rechtfertigen müssen. Doch dann platzte die Blase eben doch, und Paulson wurde über Nacht zu einem der reichsten Männer der Welt.

Auf etwas Ähnliches hoffen die Börsen-Bären natürlich auch jetzt wieder. Dann wären sie endlich auf der richtigen Seite. Für Mack ist das nur eine Frage der Zeit. "Wir wissen nicht, wie lange dieser Irrsinn, den die Notenbanker und Politiker zu verantworten haben, noch anhält, aber irgendwann wird der Wendepunkt kommen." Das könne morgen Nachmittag sein oder in zwei Jahren.

Die Bären-Strategie brachte Anlegern herbe Verluste

Genau gegen diese Ereignisse sei seine Anlagestrategie eine Versicherung, daran müsse er sich messen, nicht an neuen Dax-Höchstständen. Deshalb hält er in seinen Fonds an den Bundesanleihen fest, die kaum noch Zinsen bringen, an den Gold- und Silberminenaktien. Obwohl diese Fonds damit seit Längerem falsch liegen und den Kunden herbe Verluste gebracht haben.

Ganz ähnlich sehen auch die aktuellen Empfehlungen von Claus Vogt aus. Dieser tippt im Übrigen darauf, dass wir noch in diesem Jahr den Beginn einer Baisse am Aktienmarkt erleben werden. "Wenn die Aktienkurse sich dann halbieren, sollte sich niemand beschweren", sagt er. "Dann wären die Unternehmen endlich mal wieder fair bewertet." Aber es könnte dann auch leicht 70 Prozent abwärtsgehen. "Dann hätten wir eben mal eine Phase der Unterbewertung, auch das wäre nichts Besonderes."

Einen ähnlichen Absturz der Börsenkurse sagt auch Albert Edwards voraus. Für den marktbreiten amerikanischen S-&-P-500-Index prognostiziert er einen Stand von 450 Punkten – derzeit liegt er knapp über 1900 Zählern. Dazu prophezeit Edwards ein Absinken der Weltwirtschaft in eine Deflationsspirale sowie einen Goldpreis von 10.000 Dollar.

Der Londoner Super-Bär war vor Kurzem übrigens beim Augenarzt. Seit seinem vierten Lebensjahr trägt er dicke Brillengläser mit einer Stärke von 16 Dioptrien. "Und obwohl ich regelmäßig untersucht werde, wurde erst jetzt festgestellt, dass meine Augen unterschiedlich fokussieren, sprich: Ich sehe doppelt." Möglicherweise erkläre das ja, warum er anders auf die Welt sieht als die meisten Finanzexperten. Noch hat er sich aber nicht zum Bullen gewandelt.

Frank Stocker ist Redakteur für Finanz- und Wirtschaftsthemen bei "Die Welt / Welt am Sonntag".

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